Mittwoch, 3. Juni 2009

Ein ganz normaler Schub

4 Uhr 10. Ganz langsam gräbt sich mein Bewusstsein an die Oberfläche. Ich träume. Ich liege auf dem Rücken und bin in einem engen Eisenkorsett gefangen. Ich kann mich, vom Hals abwärts, nicht bewegen. So muss sich Leichenstarre anfühlen. Mir ist kalt. Ich bekomme Angst. Bin ich tot?
Es dauert einen Moment, bis ich realisiere, dass ich nicht mehr schlafe. Ich träume nicht. Und ich bin auch nicht tot. Ich friere, weil ich mich im Schlaf freigestrampelt habe. Ich kann mich nicht zudecken. Ich bin stocksteif.
4 Uhr 15. Mein Wecker klingelt. Ich kann ihn nicht ausmachen, ich kann mich nicht bewegen. Meine Nachbarn müssen mich hassen.
4 Uhr 30 Uhr. Ich versuche, meinen Körper zu fühlen. Dann ist er plötzlich da. Der Schmerz. Ich brauche meine Medikamente. Dringend. Und ich muss für Mädchen.
5 Uhr. Ganz langsam kann ich meinen rechten Arm bewegen. Es reicht nicht bis zum Nachttisch. Es tut so weh. Und ich muss aufs Klo!
5 Uhr 30. Ich habe es geschafft, meine Medi-Box zu öffnen und die Tabletten rauszunehmen. Ich kann sie nicht nehmen, weil ich gestern Abend vergessen habe, die Wasserflasche aufzudrehen. Meine Blase ist kurz vorm Platzen.
6 Uhr. Ich sitze auf der Bettkante und überlege, wie ich a) an was zu trinken und b) zur Toilette kommen soll.
6 Uhr 20. Meine Beine tragen mich. Mein Rücken nicht. Ich schleiche in gebückter Haltung ins Bad. 8 Meter in 4 Minuten. (Für den Hamburg-Marathon reicht das wohl nicht ganz.)
Schaffe es nicht, den Wasserhahn aufzudrehen. Also muss ich in die Küche. Nur dort gibt es eine Chance, an Wasser zu kommen. Dort habe ich eine Hebelbatterie.
6 Uhr 40. Vom Bad in die Küche. Nochmal ungefähr 8 Meter. Ich bin völlig groggy. Ich brauche meine Medikamente. Dringend! Laufen geht schon etwas besser.
7 Uhr. Ich bin wieder im Bett und habe meine Tabletten genommen. Ich brauche Novalgin. Die Schmerzen bringen mich um den Verstand.
Die Tropfen sind in einer Flasche mit kindersicherem Drehverschluss. Wer denkt sich nur so eine Scheiße aus? Ich bekomme sie nicht auf. Ich habe 1000 mg Paracetamol genommen.
7 Uhr 30. Ich habe mich eben auf der Dienststelle krank gemeldet. Schon wieder. Es ist mir so peinlich. Was sie dort wohl über mich denken? Ich habe zwar kein Geheimnis aus meinem "Zustand" gemacht, aber Theorie und Praxis liegen ja häufig sehr weit auseinander. Und man sieht es mir nicht an. Außer an Tagen wie heute, und dann bin ich ja nicht da. Vielleicht ist das sogar das größte Problem. Dass man es nicht sieht. Ich habe Angst, dass mich das irgendwann meinen Job kosten wird. Ich darf darüber nicht nachdenken, das macht es jetzt alles nur noch schlimmer.
7 Uhr 40. Ich bekomme diese beschissene Scheißflasche nicht auf! Was soll ich denn jetzt machen? Badewanne. Ich muss irgendwie in die Badewanne. Wärme hilft immer. Wenn sich meine Muskeln etwas entspannt haben, tut es auch nicht mehr so weh.
9 Uhr. Ich bin völlig fertig. Ausziehen, in die Wanne klettern, Wasserhähne aufdrehen, wieder aus der Wanne raus klettern, abtrocknen, Pyjama anziehen. Nahezu unüberwindbare Hürden. Aber ich habe es geschafft. Und bin jetzt völlig fertig. Und nass geschwitzt.
9 Uhr 20. Ich habe nochmal 1000 mg Paracetamol genommen. Ich weiß, dass das zu viel ist, aber ich bekomme diese Scheißflasche immer noch nicht auf. Was soll ich denn machen? Dr. C. meint, ich würde mich über kurz oder lang mit dem Zeug suizidieren. Ich soll Novalgin nehmen. HA HA HA!!! Ja WIE denn, wenn ich diese verkackte Scheißflasche nicht aufkriege??? (Und ob ich nun an einem irreparablen Leberschaden durch Paracetamol oder an Nierenversagen durch Novalgin krepiere ist mir im Moment nun wirklich egal!)
9 Uhr 30. Ich habe Hunger, aber ich würde vermutlich nicht mal einen Teller aus dem Schrank nehmen können. Also spare ich mir den Weg in die Küche. Ich habe immernoch Schmerzen, aber sie lassen sich aushalten.
9 Uhr 40. Ich bin müde und würde so gerne schlafen. Aber ich kann nicht. Zu viele Gedanken. Und dann dieser unaufhörliche Schmerzfluss, der sich durch meinen Körper fräst. Der wird mich eines Tages wahnsinnig machen. Dessen bin ich mir ganz sicher.
11 Uhr. Ich habe autogenes Training gemacht. Noch etwas holperig, weil ich total aus der Übung bin, aber es hat funktioniert. Sehr gut sogar. Meine Schmerzen haben sich auf knapp über Normalmaß reduziert. Vergleichbar mit starkem Muskelkater. Schmerzhaft, aber auszuhalten. Ich bin erleichtert und hoffe, es ist jetzt vorbei.
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Wie oft habe ich solche Tage in den letzten 10 Jahren erlebt? Mehrere 100 mal (ob ich die 1000 schon geknackt habe?). Ich werde mich niemals daran gewöhnen. Auch in den nächsten 10 Jahren nicht. Nie.
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PS: Ein Diktiergerät hat mich durch diesen Schub begleitet. Falls sich also jemand gewundert hat, dass ich mir sämtliche Zeiten und die Reihenfolge meiner Tätigkeiten so gut merken konnte: Nein, ich habe diesbezüglich keine besondere Begabung - nur ein Diktiergerät. ;-)

4 Kommentare:

  1. Hey, sehr verständlich geschrieben. Ich konnte mir ein kleines Bild davon machen wie du dich gefühlt haben musst. Gute Besserung.

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  2. kranke schwester, danke schön. :-)

    Es ist sehr schwierig, in Worte zu fassen, wie man sich in solchen Momenten fühlt. Ich glaube, ein Diktiergerät zuhilfe zu nehmen, war eine gute Idee. So geht nichts, was ich in dem Moment denke und fühle, verloren und wenn ich es später wörtlich abschreibe, ist es wohl auch einigermaßen gut verständlich für jemanden, der nicht live dabei war.

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  3. Oje, das hört sich ja furchtbar an!!! Ich hab zwar auch Fibro, aber so schlimm war es bei mir noch nie... Aber schön zu lesen, dass dein Leben ganz, ganz viele andere Facetten hat und du dich nicht auf deine Krankheit reduzierst. Das macht dich sehr sympathisch!
    Liebe Grüße und hoffentlich eine länger Zeit ohne so gemeine Schübe,
    Feronia.

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  4. Hallo Feronia,
    sorry dass ich erst jetzt antworte. Scheibar hat die Kommentarverfolgung nicht geklappt. :-(
    Wegen dem Schub: ich vermute mal, dass es nicht die Fibro sondern die Polymyositis war, die mich hinterrücks überfallen hat. Leider kann man das meistens nicht genau bestimmen. Aber in solchen Momenten ist es mir auch egal. ;-)
    Alles Gute auch für Dich.
    Liebe Grüße zurück.

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